Autonomes Fahren: „Wir stehen weit hinter den Erwartungen des anfänglichen Hypes“

Autonomes Fahren: „Wir stehen weit hinter den Erwartungen des anfänglichen Hypes“

Neben Elektromobilität ist vor allem autonomes Fahren ein Trend der zukünftigen Mobilität. Unternehmen wie Google oder Tesla beschäftigen sich bereits seit längerem mit selbstfahrenden Autos. In Arizona sind Waymo-Roboterautos als Taxis fahrerlos unterwegs. Auch in Wien, in der Seestadt, wurden selbstfahrende Autobus-Shuttles der Wiener Linien getestet. Klar ist: Die Zukunft des Verkehrs ist auch automatisiert und vernetzt. Wann der Komfort selbstfahrender Fahrzeuge für jedermann und jederfrau möglich sein wird, steht noch in den Sternen. Wir haben mit Dipl.-Ing. Dr. Mathias Mitteregger, Senior Expert bei AustriaTech, über die Möglichkeiten und Grenzen des autonomen Fahrens gesprochen.

 

(c) Nika Mitte

 

 

Dipl.-Ing. Dr. Mathias Mitteregger leitete bis März 2021 das Forschungsprojekt AVENUE21 am future.lab. Das Team untersuchte die Entwicklungen von Automatisierung und Vernetzung des Verkehrs. Heute ist er Senior Expert bei der Forschungsgesellschaft AustriaTech.

 

 

 

 

TUWac: Herr Dipl.-Ing. Dr. Mitteregger, wo stehen wir aktuell in der Entwicklung zum automatisierten Fahren?

Mitteregger: Zu Beginn des Forschungsprojekts AVENUE21 im Oktober 2016 waren viele überzeugt, dass automatisierte Fahrzeuge in fünf Jahren auf den Straßen fahren werden. Jetzt ist bekannt, dass künstliche Intelligenz oder Machine Learning bei weitem noch nicht ausgereift sind, um ausreichend sicher im belebten Innenstadtverkehr eingesetzt zu werden. Die Technologie wird länger brauchen, ein deutlicher Vorteil für Städte, Länder und Regionen, die diese Zeitspanne nützen können, um sich auf selbstfahrende Roboterautos vorzubereiten.

 

Kreuzungen, Fußgänger und Fahrradfahrer: Das sind Faktoren, die menschliche Lenker:innen beim Fahren beachten. Wie gut schafft das inzwischen ein selbstfahrendes Auto? Wie viel können die Sensoren erkennen?

Die Sensoren sind nicht wirklich das Problem. Die große Hürde ist, Informationen von unterschiedlichen Sensoren zu einem kohärenten Bild zu vereinen und dieses Bild auch zu verstehen. Bei einem Autopiloten im Flugzeug geht es darum, physikalische Kräfte auszugleichen. Im Straßenraum hat man es hingegen mit Wahrscheinlichkeiten zu tun. Wir Menschen sind aufgrund unserer Intuition sehr gut darin, das Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer:innen einzuordnen. Ein selbstfahrendes Fahrzeug erkennt zum derzeitigen Stand lediglich, dass es sich um eine:n Fußgänger:in handelt.

 

In Ihrer Publikation Avenue 21 betonen Sie und Ihr Team, dass Autonomes Fahren nicht zu einer Konkurrenz für öffentliche Verkehrsmittel werden soll. Welche Straßenräume würden sich dann Ihrer Einschätzung nach gut für die Integration von automatisiertem Fahren eignen?

Automatisiertes Fahren hat großes Potenzial in Industrie- und Gewerbestraßen und könnte wichtige Versorgungsfunktionen im suburbanen Raum übernehmen. Gerade dort, wo die Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz ausbaufähig und wirtschaftlich häufig nicht rentabel ist.

 

Welche Länder sind Ihrer Einschätzung nach führend in der Entwicklung?

Ganz spontan: Japan. Die Demographie der Gesellschaft verändert sich stark, das Durchschnittsalter steigt rasant an und führt vor allem im ländlichen Raum zu Versorgungsproblematiken. Der japanische Lösungsansatz ist radikal – man versucht entlang der Tokio–Osaka-Achse ein enormes Ballungszentrum zu errichten und dieses mit Hochgeschwindigkeitszügen zu versorgen. Der gesamte ländliche Bereich soll durch automatisierte Roboter versorgt werden. Der offene Zugang zum Thema der Robotik der japanischen Bevölkerung ist hierbei hilfreich. Zudem wird kein großer Unterschied gemacht, ob die Robotik innerhalb von Häusern oder im öffentlichen Raum der Straße eingesetzt wird.

 

Wie werden sich Städte in den nächsten 50 Jahren durch autonomes Fahren verändern?

Autonomes Fahren wird Teil eines neuen Verkehrssystems sein, aber Wien und auch andere Städte in den Stadtkernen nicht prägend verändern. Die eigentliche Herausforderung für die großen Städte, ist die richtigen Weichen in Richtung einer Klimaneutralität zu stellen. Städte müssen grundlegend neu überdacht werden und ganz neue Straßenräume geschaffen werden, um die neue Form der Urbanität zu ermöglichen. Natürlich müssen Verkehrsprobleme auch mit neuen Mobilitätstechnologien gelöst werden, aber ein Teil der Antwort muss in der grundlegenden Reorganisation des öffentlichen Raums liegen.

 


Nähere Infos zum Projekt: AVENUE21

Sandra Spicker, 30. Juni 2021